am Kottbusser Damm
Das Moviemento
Am Kreuzberger Kottbusser Damm
Inhalt und Kapitelübersicht
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1 | Jugenderinnerungen an alte Kinos
Bild und Text: Lutz Röhrig
Das Kino, so unkt man schon seit Jahrzehnten, ist eine aussterbende Form der Unterhaltung. Und in der Tat sind heute viele jener Stätten verschwunden, in denen wir als Kind unsere ersten Abenteuer überstanden oder später im heimeligen Dunkel des Zuschauerraums uns unserer Angebeteten zaghaft zu nähern suchten.
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Viele einst große Namen gibt es heute nicht mehr: das Marmorhaus am Kurfürstendamm, den Royal – Palast im Europacenter, die Filmbühne Wien im legendären Haus Wien oder die einst zahlreichen Kinos im Umkreis des Hermannplatzes und des Kottbusser Damms - alles vergangen. Oder doch nicht ganz?
| Gewitterstimmung. Die heutige Fassade des Eckhauses Kottbusser Damm / Boppstraße mit dem Kinoeingang und den sich nach außen durch die Luken abzeichnenden Kinoräumlichkeiten im 1. OG.
Ein Kino aus meiner frühesten Kindheit hat, fast schon ein kleines Wunder, die Zeiten überdauert: das heutige Moviemento am Kottbusser Damm. Einst war für uns am Planufer aufgewachsenen Kinder der Kottbusser Damm das, was später der Kurfürstendamm werden sollte: unsere Einkaufs- und Erlebnismeile.
Was gab es in der Straße alles zu entdecken: rätselhafte Ruinen, das Kaufhaus "Bilka" an der Brücke, ein Spielwarengeschäft mit Modellbahnabteilung im Kellergeschoss, ein Fischladen mit aufwendig dekorierten Fischernetzen unter der Ladendecke, das Heimtiergeschäft Hornung mit seinen Vögeln und Hamstern - ja und dann dieses Kino am "Zickenplatz". Eines von zweien, die es damals am Kottbusser Damm noch gab.
Doch während das 1952 eröffnete Heli - Filmtheater am Kottbusser Damm 95 (Ecke Schinkestraße), in dem ich mit meiner Schwester noch Ende der sechziger Jahre Pipi Langstrumpf Filme sah, bereits 1973 wieder schloss, sollte dem "Tali", wie das Moviemento damals hieß, eine erheblich längere Lebensdauer beschieden sein.
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2 | Mein erster Kinofilm. Weltraumabenteuer im Tali
An meinen ersten Film im Tali - irgendwann Ende der sechziger Jahre - kann ich mich noch gut erinnern: "Weltraumschiff MR-1 gibt keine Antwort“. Schon damals nicht gerade der allerneueste Kassenschlager.
Die Jahre vergingen, das Angebot an Filmen änderte sich in Richtung „Qualitätsfilm“. Für mich in späteren Jahren waren Dokumentationen wie der Film: „Die amerikanischen Wolkenkratzer und Louis Sullivan“ oder Dramen wie wie "Lola rennt", "Winterschläfer" (Regie und Drehbuch jeweils: Tom Tykwer) oder "Chungking Express" und "Fallen Angels" (beide: Wong Kar-Wai) besonders sehenswert.
| Einst bildeten die im Vorraum zu sehenden roten Zwischentüren den eigentlichen Eingang, so dass der hinter den heutigen Metalltüren liegende Kassenbereich direkt von außen erreicht werden konnte.
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| Der Kottbusser Damm in der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum. Rechts an der Ecke zur Boppstraße das damals als "Vitascope - Theater" bezeichnete spätere Moviemento. Im Hintergrund der Hermannplatz.
3 | Alfred Topp's Kino am Zickenplatz
Ist auch heute das Geschäft mit der Zelluloid- Illusion schwieriger geworden, so war dies auch in der Zeit um die Jahrhundertwende keineswegs einfach. Das erste Etablissement, das sich in jenem prächtigen, 1905 durch den Architekten Adolf Uedinck errichteten Gebäude an der Ecke zur Boppstraße ansiedelte, war, so heißt es, angeblich das Wachsfigurenkabinett der bekannten Brüder Castan, die damals viele Filialen auch in anderen Städten unterhielten. Ob dies zutrifft? Im Berliner Adressbuch findet sich hierzu jedoch kein Eintrag.
Als die Räume 1906 freigeworden waren, richtete hier Alfred Topp, welcher im Erdgeschoss des Gebäudes bereits seit einiger Zeit eine Restauration betrieb, 1907 im 1. OG ein Kino ein, das zunächst den Namen "Lichtspieltheater am Zickenplatz" trug.
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4 | Filme seitenverkehrt sehen - und Geld sparen
Geschickt nutzte Alfred Topp den Umstand, dass das Kino der Ecksituation des Gebäudes folgen muss, dafür aus, hier zwei im Winkel von 45 Grad zueinander liegenden Säle, lediglich getrennt durch eine Leinwand, einzurichten.
Während im ersten Saal die Zuschauer den jeweiligen Film in Normalansicht verfolgen konnten, sahen die Zuschauer im zweiten, hinter der Leinwand liegenden Teil des Kinos den Film seitenverkehrt. Ein im Winkel hierzu aufgestellter Spiegel jedoch ermöglichte die Normalansicht. Hierdurch sahen die Kinozuschauer im hinteren Saal den Film sozusagen doppelt - links durch die transparente Leinwand und rechts im korrigierenden Spiegel. Das Ganze zu ermäßigten Preisen natürlich. Ein damals durchaus verbreitetes Verfahren, das in vielen Kinos anzutreffen war.
Diese Anlage bestand noch lange nachdem ich jenes anfangs erwähnte erste Weltraumabenteuer gesehen hatte. Allerdings wurden die hinter der Leinwand liegenden Plätze für Filmvorführungen nicht mehr genutzt.
| Die heute als Zwischentüren dienenden einstigen Außentüren. Rechts ist noch ein Teil der aus den 1960er Jahren stammenden Mosaiksteinverkleidung zu sehen, die ursprünglich die gesamte Erdgeschossfront des Wohnhauses umgab.
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| Der Treppenaufgang mit Blick vom Eingangsbereich zum Zwischenpodest und dem alten Schaukasten. Die einst vermutlich zumindest teilweise freistehende Treppe führt nach rechts in den eigentlichen Kinobereich im 1. OG.
5 | Von Alfred Topp bis Manfred Salzgerber
Nach Alfred Topp, auf dem angeblich der Ausdruck „Kintopp“ zurückgehen soll, erhielt das Kino mit den nun wechselnden Besitzern Namen wie "Vitascope Theater", "Odeon" oder "Hohenstaufen-Lichtspiele". 1959 erfolgte die Umbenennung in dann "Das lebende Bild" und später in "Taki". Im Zuge des allgemeinen Kinosterbens wird das Filmtheater in den 1960er Jahren schließlich an Manfred Salzgeber verkauft. Salzgeber hatte u. a. 1971 in Rosa von Praunheims berühmten Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" zusammen mit Bernd Feuerhelm mitgespielt und schuf ab 1981 die Voraussetzungen für die spätere "Panorama" - Abteilung der Berlinale.
Salzgeber wandelt das nun als "Tali"-Kino bezeichnete Filmtheater - als erster Kinobetreiber überhaupt in Berlin - in ein Programmkino um und wurde dadurch zum Retter nicht nur des Tali. Gezeigt werden neben Heimatfilmen auch junge Autorenfilme wie z. B. jene von Rainer Werner Fassbinder. Zudem adaptiert er den hinter der Bühne gelegenen Bereich zur Aufführung von Theaterstücken, wozu sich die den Kinosaal trennende Filmleinwand herausnehmen lässt. Doch 1974 muss Salzgeber, welcher den Ruf des Tali als ein eher anspruchsvolles Filmtheater begründete, das Kino verkaufen.
| Kino 3 des Moviemento mit Blick zur Leinwand.
| Der Treppenaufgang in der Gegenperspektive.
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6 | Die Ära Wieland Speck
Irgendwann verlor ich das damalige Tali dann aus den Augen. Nun ging ich in die großen Kinos am Kurfürstendamm. Damals gab es dort noch die inzwischen leider verschwundenen, legendären Kinos wie dem "Royal Palast" im Europacenter, das "Marmorhaus", der "Gloria - Palast" oder die "Filmbühne Wien" am Kurfürstendamm.
Es war dies die Ära von Wieland Speck, welcher heute, neben seiner Tätigkeit als Regisseur und Drehbuchautor, für die "Panorama"- Sektion der Berlinale verantwortlich ist. Speck hatte 1975 das Kino zusammen mit drei weiteren Kollegen - wie Elser Maxwell, dem späteren Manager der Gruppe "Ton Steine Scherben" - übernommen. Das Kino etabliert sich zusehends zu einem Musikfilmkino der neuen deutschen Szene, wozu auch der homosexuelle Film und weiterhin hier aufgeführte Theaterstücke gehörten.
Allerdings waren Wieland Speck und Elser Maxwell auch diejenigen, welche den bis dahin vom Verleih bereits fast aufgegebenen und hierzulande weitgehend unbekannten Film "The Rocky Horror Picture Show" ins Tali holten. Das Kino, bis dahin anerkannt als Stätte des eher hochwertigen Films, aber finanziell stets am Rande der Noch - Wirtschaftlichkeit, wurde nun von den Fans regelrecht gestürmt.
| Zwischenpodest auf halber Höhe zum 1. OG. Der Schaukasten soll noch aus den Anfangstagen des Kinos stammen.
| Blick in den Kinosaal 3
Es bildeten sich lange Schlagen, kein Tag, in dem der Saal nicht bis auf den letzten Platz gefüllt war. Man maskierte sich in den Rollen der Darsteller, schmiss mit Reis bei der Hochzeitsszene um sich oder schoss bei Regen mit Wasserpistolen - und brannte am Ende des Films Wunderkerzen ab. Das Kino wurde finanziell zu einer Goldgrube, doch es litt - sowohl vom Ruf als auch von der Bausubstanz her, die durch die Fans und deren "Showeinlagen" langsam aber sicher regelrecht zerlegt wurde.
Mitschüler von mir berichteten immer wieder von den "Abenteuern", die sie während der Aufführung des Films hatten. Wie viele Paare sich hier wohl näher kennengelernt haben dürften... Dem Kino jedenfalls tat dieser Massenbetrieb nicht gut. Durch einen Unfall zerbrach nun auch der immer noch vorhandene Spiegel im hinter der Leinwand gelegenen zweiten Saal, welcher all die Zeiten von der Gründung, über den Krieg und den diversen kleineren und größeren Umbauten hinweg überstanden hatte. Eine Zäsur für das Kino - und scheinbar der Anfang vom Ende.
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7 | Die 1980er Jahre - André Rudolf
Ich selbst wurde erst in den 1980er Jahren auf Grund des Umbaus des Eckhauses am Zickenplatz auf das Kino wieder aufmerksam. Alte Gebäude mit großer Geschichte interessieren mich, der Kottbusser Damm gab hierzu mit der ein- oder anderen Ruine, deren Abriss oder Umbau noch genügend Anschauung. Man denke nur an das Anfang der 1980er Jahre noch ruinöse Taut - Haus neben dem damaligen Warenhaus "Bilka" nahe der Kottbusser Brücke.
Das Kino war zu diesem Zeitpunkt von André Rudolf (Betreiber der "Kinomacherei Colonna", heute "Xenon Kinos") übernommen worden. Es wurden im Zusammenhang mit der Umwandlung in ein Programmkino wieder in "Das lebende Bild" umbenannt.
Die alte Kinokartenausgabe am Beginn der großen Treppe, in welcher einst Nina Hagen und Blixa Bargeld (dem Begründer der "Einstürzenden Neubauten") ihre Songs für das nächste Album probten, ist heute jedoch verschwunden.
| Rechte Wandseite des ursprünglich einmal zur Straße hin offenen ehemaligen Foyers mit dem aus den 1960er Jahren stammenden schwarzen Kleinsteinmosaik. An dieses, ursprünglich die gesamte Erdgeschosszone des Gebäudes umgebende Mosaik kann ich mich noch gut erinnern - auch an das Wienerwald-Restaurant gleich neben dem Kino.
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| Tom Tykwer - hier auf der Berlinale 2018 - ist heute ein international bekannter Regisseur (Lola rennt, Babylon Berlin). Nach ersten Anfängen in seiner Heimatstadt Wuppertal begann seine eigentliche Karriere in Kreuzberg...
8 | Das Moviemento in der Gegenwart
Ein erneuter Wandel trat mit der Übernahme des Kinos 1984 durch Ingrid Schwibbe, der Lebensgefährtin von André Rudolf, ein – was auch äußerlich am neuen Namen „Moviemento“ erkennbar sein sollte. 1988 erfolgte durch Ingrid Schwibbe ein tiefgreifender Umbau des Kinos. Es gab nun drei Säle (62, 67 und 103 Plätze) deren Gestühl zudem – bis dahin aus hölzernen Klappsitzen bestehend - dank moderner Kinosessel um vieles bequemer wurde. Auch wurde ein Teil der Fenster entfernt und durch kleine Entrauchungsklappen ersetzt.
Ingrid Schwibbe engagierte darüber hinaus einen jungen Mann, welcher sich ihr überraschend vorstellte, um unbedingt im Kino zu arbeiten: Tom Tykwer. Er sollte später als Regisseur von Filmen wie "Lola rennt", "Der Krieger und die Kaiserin" oder dem Filmprojekt "Berlin Babylon" (welches zum Teil im ehem. Kino Delphi gedreht worden ist) bekannt werden. Tom Tykwer, der bereits erste Erfahrungen in seiner Heimatstadt Wuppertal gesammelt hatte, war zunächst als Filmvorführer, dann als Programmdirektor im Moviemento tätig. Beliebt war das Moviemento in jener Zeit auch als Treffpunkt für Filmschaffende, durch die Tykwer entscheidende Impulse für seinen weiteren Werdegang erhielt. Im Foyer des Moviementos gründete er 1994 zusammen mit den Regisseuren Dani Levy und Wolfgang Becker sowie dem Produzenten Stefan Arndt die Verleih- und Produktionsfirma "X - Filme Creative Pool", bei der u. a. auch Tykwers Film "Lola rennt" entstand.
2007 folgte mit der Übernahme des Moviementos durch Iris Praefke und Wulf Sörgel (Sörgel betrieb zu diesem Zeitpunkt bereits auch das "Central" am Hackeschen Markt, beide zusammen heute neben dem "Central" seit 2018 auch das "Toni" in Weißensee) das bisher letzte Kapitel in der Geschichte des über hundertjährigen Lichtspieltheaters.
Auch wenn sich vieles verändert hat, die Säle bequemer wurden und die Technik moderner, es gibt dieses Kino meiner Jugend noch immer. Und das hoffentlich recht lange. Ich jedenfalls werde es gern öfters einmal aufsuchen, auch wenn - zum Glück - keine Marsungeheuer mehr, welche über ahnungs- und wehrlose Weltraumfahrer hereinbrechen, auf dem Spielplan stehen…
Ich bedanke mich bei der Inhaberin des Kinos für das nette Gespräch und die Fotografier - Erlaubnis.
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